Doris Reisinger und Christoph Röhl werfen Papst em. Benedikt XVI. schwere Versäumnisse und ein zu spätes Interesse im Umgang mit sexuellem Missbrauch in der Kirche vor. Folgende Zeitleiste will als Faktencheck zeigen, wie lange er in der Tat schon gegen diese Verbrechen gekämpft hat und Widerstand überwinden musste. Wir danken Prälat Prof. Dr. Markus Graulich für die Zusammenstellung.
Eine zeitliche Übersicht
2. Oktober 1987: Kardinal Ratzinger erhält den Brief eines Erzbischofs aus den USA, der anfragt, ob es nicht eine Möglichkeit gäbe, Priester, die zu Missbrauchstätern geworden sind, ex officio (d.h. von Amts wegen) aus dem Klerikerstand zu entlassen. Kardinal Ratzinger versieht den Brief mit dem Vermerk „Portare in CP; urgente“ (in den besonderen Kongress [die Beratung der Oberen der Kongregation] bringen; dringend). Mit diesem Brief ist die Frage auf dem Tisch, die Joseph Kardinal Ratzinger nun lange beschäftigen und auch das Pontifikat Benedikt XVI. prägen würde: Wie soll mit Priestern umgegangen werden, die sich des (schweren) Missbrauchs Minderjähriger schuldig gemacht haben und deren Schuld festgestellt wurde? Kann man sie von Amts wegen aus dem Klerikerstand entlassen, ohne einen Prozess zu führen und ohne dass sie von sich aus darum bitten?
19. Februar 1988: In einem Brief an den damaligen Präsidenten der Kommission für die authentische Interpretation des CIC, Rosalio José Card. Castillo Lara, fragt Kardinal Ratzinger, ob es nicht eine Möglichkeit der Entlassung ex officio geben müsse, um das Wohl der Gläubigen zu schützen. Die Antwort, die er einen Monat später erhält, ist negativ: Eine Entlassung aus dem Klerikerstand sei erst nach einem Strafprozess möglich (später sollte Castillo Lara seine Ansicht ändern). Das aber half bei der Beantwortung der Anfrage aus den USA nicht weiter.
1994 wird ein erster Schritt in Richtung einer Reform des Strafrechts gegangen, der darin bestand, dass der Vatikan im April Sondernormen für den Bereich der USA zu erlassen, die 1996 auf Irland ausgeweitet werden: zunächst wurde das Schutzalter im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch auf 18 Jahre heraufgesetzt (der Codex hatte eine Altersgrenze von 16 Jahren) und es erfolgte eine Veränderung der Verjährungsfrist: sie wurde von fünf auf zehn Jahre hochgesetzt und begann erst mit dem vollendeten achtzehnten Lebensjahr des Opfers.
15. Dezember 1995 in einer Audienz macht Kardinal Ratzinger Papst Johannes Paul II. anhand eines konkreten Falles deutlich, dass es auch für die Universalkirche einer neuen Regelung bedurfte. Daraufhin wird 1996 in der Glaubenskongregation eine Expertenkommission eingesetzt, die sich mit der Fragestellung befasst und damit beginnt, Normen auszuarbeiten, deren Entwurf lange diskutiert wird. Schließlich kann der Text im Januar 2000 der Vollversammlung der Kongregation vorgelegt und mit Johannes Paul II. besprochen werden. Wiederholt tauchte bei den Beratungen die Frage auf, ob die Behandlung von Missbrauchsfällen als Straftat gegen Glaube und Sitte bei der Glaubenskongregation verbleiben oder besser an die Kleruskongregation übertragen werden sollte. Im November 2000 fällt bei den Beratungen in der Kongregation die Entscheidung, die Papst Johannes Paul II. in einer Audienz vom 10. November 2000 bestätigt.
30. April 2001 werden mit dem Motu proprio Sacramentum Sanctitatis tutela die neuen Normen veröffentlicht, die eine Behandlung der Missbrauchsfälle erleichtern und sie unter die Straftaten zähle, welche der Glaubenskongregation vorbehalten sind.
7. November 2002:
Da bei der Anwendung der neuen Normen deren Grenzen bald deutlich werden, gewährt Papst Johannes Paul II. auf Vorschlag von Kardinal Ratzinger die Möglichkeit, von der Verjährungsfrist zu dispensieren und daher auch ältere Fälle zu behandeln. Kardinal Ratzinger hatte sich von Anfang an für diese Möglichkeit stark gemacht.
7./14. Februar 2003: In einer weiteren Abänderung der Normen erhält die Kongregation nicht nur die Möglichkeit, Verfahrensfehler der diözesanen Gerichte zu sanieren, sondern auch, was viel bedeutender ist, die Vollmacht, die Missbrauchsfälle auch in einem Verwaltungsverfahren (nicht im aufwendigen Strafprozess) zu behandeln und auf Antrag der Bischöfe schwere Fälle von Missbrauch, die zur Entlassung ex officio führen, direkt dem Papst vorzulegen. Damit war ein Anliegen erfüllt, das Kardinal Ratzinger schon 1988 vertreten hatte.
19. Februar 2004: Papst Johannes Paul II. erweitert die Zuständigkeit der Glaubenskongregation auch auf solche Missbrauchsfälle, in denen Kardinäle, Patriarchen, Bischöfe und Ordensobere angeklagt werden. Im Oktober 2004 approbiert er das bereits von der Kongregation praktizierte Vorgehen, auch in Fällen der so genannten Pädopornographie tätig zu werden.
April 2005: Kardinal Ratzinger schickt den Kirchenanwalt der Glaubenskongregation, Mons. Charles Scicluna nach New York, Mexico-Stadt und Madrid, um die Opfer von Marcial Maciel Degollado zu befragen und ihrer Anzeige nachzugehen.
6. Mai 2005:
In einer seiner ersten Audienzen bestätigt Papst Benedikt XVI. die von Johannes Paul II. gewährten Sondervollmachten und gibt der Glaubenskongregation zugleich den Auftrag, die Normen für die Behandlung der Missbrauchsfälle zu überarbeiten.
28. September 2007:
Papst Benedikt XVI. erteilt dem Präsidenten und dem Sekretär des Päpstlichen Rates für die Gesetzestexte den Auftrag, das gesamte Strafrecht der Kirche neu zu fassen.
19. März 2010:
Papst Benedikt XVI. veröffentlich ein Schreiben zur Missbrauchskrise an die Kirche in Irland. Dieses Schreiben gilt zweifellos der ganzen Kirche. Darin und in anderen Texten aus der Zeit des Pontifikates wird deutlich, worum es ihm bei der Aufarbeitung und Strafverfolgung von Missbrauch in der Kirche ging: die Wahrheit ans Licht zu bringen!
12. Mai 2010:
Papst Benedikt XVI. approbiert die Neufassung von Sacramentum sanctitatis tutela. Für ihn sind die neuen Normen der richtige Weg, um besser, genauer und schneller auf die Missbrauchsfälle in der Kirche reagieren zu können. In einer Audienz für den Präfekten der Glaubenskongregation am 18. Februar 2011 spricht er sich zudem ausdrücklich für eine Zusammenarbeit mit den zivilen Behörden aus.
20. Dezember 2010:
In seiner Weihnachtsansprache an die Römische Kurie geht Papst Benedikt XVI. auf den Missbrauch Minderjähriger durch Priester und seine tieferen Ursachen ein. Auf das gleiche Thema kommt er in seinen Reflexionen aus dem Jahr 2019 zurück.
コメント